Sozialdemokratischer Informationsbrief Kiel, 14.11.2003 Landtag Es gilt das gesprochene Wort! Sperrfrist: Redebeginn aktuell TOP 36 ­ Konsequenzen der Landesregierung aus dem ,,Kopftuch-Urteil" Dr. Henning Höppner: Gesetzliche Regelung derzeit nicht notwendig Die Muslime bilden die drittgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland. Inzwischen leben fast 3,2 Millionen Muslime in Deutschland. Rund 500.000 davon haben die deut- sche Staatsbürgerschaft. Das sind in der Tat deutlich weniger als ein Prozent der Bun- desbürger, um dieses Verhältnis einmal zu relativieren. Das ist etwa im Vergleich zu Frankreich ein verschwindend geringer Anteil. Das Hauptherkunftsland ist die Türkei, die 2/3 der in Deutschland lebenden Muslime stellt, ein bevölkerungsstarkes Land, das demnächst Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft werden will und werden soll. Wir haben vor allem in den großen Städten unseres Landes Jahrzehnte lange Erfah- rungen im Zusammenleben mit der aus der Türkei und anderen islamischen Ländern stammenden islamischen Bevölkerung. Ich denke hier in der Landeshauptstadt an den Stadtteil Gaarden. Wer dort länger gelebt hat, kann die Veränderungen bei den dort lebenden ausländi- schen Mitbürgern sehr gut nachvollziehen. Vor zwei oder drei Jahrzehnten waren es Familien aus der Westtürkei, die in diesen Stadtteil kamen, weil wir ihre Arbeitskraft brauchten. Es hat sich manches geändert. Wer heute die Markttage und die Geschäfte am Vinetaplatz aufsucht oder auch dort lebt, für den gehören Kopftuch tragende Frau- en zum Alltagsbild. Schleswig- Holstein Herausgeber: SPD-Landtagsfraktion Verantwortlich: Petra Bräutigam Landeshaus Postfach 7121, 24171 Kiel Tel: 0431/ 988-1305/1307 Fax: 0431/ 988-1308 E-Mail: pressestelle@spd.ltsh.de Internet: www.spd.ltsh.de SPD -2- In den Schulen dieser Stadtteile stellt sich die Situation ganz ähnlich dar. Es gibt in den entsprechenden Stadteilen Schulen mit mehr als 50 % Anteil an ausländischen Schülerinnen und Schülern, die im Bereich der weiterführenden Schulen überwiegend die Hauptschulen betreffen. Unser politisches Handeln im Hinblick auf die Integration unserer ausländischen Mit- bürger hat in diesem Haus eine ausgesprochen starke Rolle gespielt, bei allen Fraktio- nen und Mitgliedern dieses Hauses. Es mag sicher von Fraktion zu Fraktion graduelle Unterschiede in den Zielsetzungen der Integration geben oder der Respektierung der kulturellen Eigenständigkeit der Migranten, ihrer Sprachen und ihrer Religionen. Der Respekt gegenüber der Eigenständigkeit der Kultur und Sprache unserer auslän- dischen Mitbürger ist genauso wie gegenüber unseren Minderheiten nie in Frage ge- stellt worden. Und wir haben in der demokratischen Geschichte unseres Bundeslandes aus dieser eigenständigen schleswig-holsteinischen Grundüberzeugung heraus auch nie eine kulturkritische Diskussion gegenüber Minderheiten und ausländischen Mitbür- gerinnen und Mitbürgern geführt, geschweige denn je angestimmt. Schleswig-Holstein ist in dieser Eigenart anders als der Freistaat Bayern, anders als Baden und Württem- berg. ,,Der Spiegel" hält in seiner Schlußbemerkung zu seiner Titelstory vom 29. September 2003 fest: Politisch wird der Kopftuch-Streit erst richtig losgehen. Baden-Württemberg und Bayern greifen das Karlsruher Urteil auf, wollen ihre Landesgesetze entsprechend formulieren und durchsetzen, obwohl jeder weiß, die verabschiedeten Gesetze wer- den, wie die Medien prophezeien, wie ein Bumerang zum Verfassungsgericht zurück- kommen. Da unsere Kollegin Sylvia Eisenberg ein bildungs- und schulpolitisches Vorbildländle hat, Baden-Württemberg, das haben wir in der ganzen Folge unserer bildungspoliti- schen Debatten ja schnell feststellen können, müssen wir natürlich in Schleswig- Holstein sofort in der ersten Reihe eine Diskussion um das Prinzip Kopftuch führen. -3- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch in meiner Fraktion wird die Diskussion um das Kopftuch oder um die Zulässigkeit des Kopftuches bei der Einstellung und Verbeam- tung von muslimischen Lehrerinnen ausgesprochen vielfältig diskutiert. Es gibt Kolle- ginnen und Kollegen, die dem baden-württembergischen Ansatz ausgesprochen nahe stehen, dazu die ganze Bandbreite bis zu denjenigen, die keinen Handlungsbedarf se- hen. Nun haben wir die Kopftuch-Diskussion hier in das Parlament geholt. So müssen wir einen Weg und ein Verfahren diskutieren, die unseren verfassungsrechtlichen Grundsätzen, unseren bildungsrechtlichen und schulgesetzlichen Regelungen, unse- ren Zielsetzungen der Integration der ausländischen Mitbürger, der Respektierung ih- rer Herkunft, Kultur und Religion gerecht werden. ,,Der Spiegel" hat in seiner 40. Ausgabe im Zusammenhang mit dem Kopftuch-Urteil einen Weg vorgegeben, den viele Kollegen in gleicher Weise nachgehen möchten: Die Aufarbeitung der Entwicklung der muslimischen oder islamischen Gemeinschaften und ihrer Ziele in Deutschland. Solche Berichterstattungen sind kaum geeignet, das Bild des Islam in Deutschland zu klären. Denn auch der Spiegel hinterlässt nur Fragen, Be- fürchtungen und zu einem großen Anteil auch Ängste. Im Grunde stellt sich die Entwicklung der muslimischen Gemeinschaften in Deutsch- land nicht anders dar als in der Welt sonst. Ich bin mir sicher, dass wir dieses Problem nicht vom Tisch kriegen, wenn wir wie ,,Der Spiegel" eine grundsätzliche Aufarbeitung der islamistischen Tendenzen in Deutschland oder Schleswig-Holstein vornehmen wollen und uns über die gegensätzlichen Auffassungen des Rollenverständnissen von Frauen austauschen. Die großen Religionen und Religionsgemeinschaften entwickeln sich in ihrer eigenen Dynamik, so wie in der Welt des Islam dieser Prozess derzeit stattfindet. Das heißt, dass wir nicht erwarten dürfen, dass ein Veränderungsprozess in einer Weltreligion in -4- einem europäischen Land nicht stattfindet. Prof. Udo Steinbach vom Deutschen Ori- ent-Institut beschreibt das wie folgt: ,,Die Verwestlichung oder Europäisierung, wie sie von Mustafa Kemal in der Türkei verordnet wurde, ist zur Zeit ausgebremst. Ein Stück Stoff auf dem Kopf macht in der islamischen Welt Karriere. Und es gilt für viele Frauen, sich als gläubige Musliminnen gegenüber ihrem Umfeld kenntlich zu machen." Müssen wir ein Gesetz erlassen, um kopftuchtragenden muslimischen Lehrerinnen, die einen anerkannten ausländischen Hochschulabschluß als Pädagogen haben, in der Regel wohl aber ein Lehramtsstudium an einer deutschen Hochschule absolvierten haben, eine erste Lehrerprüfung und eine zweite Lehrerprüfung vor einem staatlichen Prüfungsausschuss absolviert haben, den Eintritt in den Lehrerberuf zu verwehren? Nach dem Motto: bis zum erfolgreichen Abschluss des Referendariats Kopftuch er- laubt, für die weitere Laufbahn verboten! Referendariat bedeutet mehr als ein Jahr Tä- tigkeit in einer Schule und die eigenständige Erteilung von Unterricht! Meine Fraktion ist sich trotz ihres breiten Meinungsbildes einig darüber, dass ein vor- schneller Gesetzesentwurf uns hier nicht weiterhelfen wird, zumal die Gesetzentwürfe der beiden Kultusministerinnen Schavan und Hohlmeier schon die Kritikpunkte erken- nen lassen, die erneut in Karlsruhe verfassungsrechtlich zu bewerten sind: in Baden- Württemberg die Bezugnahme auf das Kopftuch als politisches Symbol und in Bayern die Bezugnahme der Bildungsziele im bayerischen Schulgesetz auf die Grundsätze der christlichen Konfessionen. Es wird, meine Damen und Herren, bei der Verbeamtung von Lehrerinnen mit Kopf- tuch immer auch um Einzelfallentscheidungen gehen, so wie wir das bislang auch aus anderen Bundesländern vernommen haben. Ob eine gesetzliche Regelung hier eine sinnvolle Lösung darstellt, muss zur Zeit eher bezweifelt werden. Wir sollten diese Fragestellungen eher aus der 2. Reihe beobachten, mit Sorgfalt und Bedacht, und dann erst Entscheidungen treffen. Ich bitte um Überweisung.